Tiefenentwässerung für Stuttgart 21
Neuer Abstellbahnhof in Untertürkheim
Im Rahmen des Großprojektes Stuttgart 21 wird im Stadtteil Untertürkheim ein neuer Abstellbahnhof gebaut. Die Deutsche Bahn nutzt hierfür die Fläche eines alten Güterbahnhofes, der in Teilen bereits seit mehreren Jahren stillgelegt ist. Bevor jedoch die Züge über die Schienen in Untertürkheim ein- und ausfahren können, ist unter anderem die Tiefenentwässerung auf dem rund elf Hektar großen Gelände herzustellen. Dabei sind auch drei große Abwasserkanäle, die das Gleisfeld kreuzen und von der Stadtentwässerung Stuttgart zur Mischwasserableitung genutzt werden, zu sanieren. Teilbereiche dieser Kanäle verlaufen unter permanent im Betrieb befindlichen Gleisanlagen. Doch Dank der großen Auswahl an grabenlosen Kanalsanierungsverfahren, gibt es technisch, wirtschaftlich und insbesondere auch ökologisch attraktive Sanierungsmöglichkeiten, die nur minimale Eingriffe in die oberirdische Infrastruktur erfordern.
Als Generalunternehmer beauftragte Eiffage Infra-Nordwest, Wallenhorst, die Münchener Niederlassung der Aarsleff Rohrsanierung GmbH mit der Ausführung. Zum Einsatz kam nach Planungen von STEIN Ingenieure, Niederlassung Leonberg, ein Einzelrohr-Lining mit GFK-Rohren der Amiblu Germany GmbH, die über ein speziell angepasstes Sonderprofil verfügten. Amiblu überzeugte zusammen mit STEIN Ingenieure auf Grundlage von FEM-Berechnungen, materialtechnischen Nachweisen und Referenzen die zuständigen Bahnverantwortlichen von der Eignung der Amiblu NC Line Rohre für die speziellen Anforderungen der Deutschen Bahn AG. Zudem konnte mit der passgenauen Profilwahl sowohl der hydraulische Nachweis im Rahmen der Netzberechnung erfolgreich geführt als auch die statische Ertüchtigung der Altkanäle nachgewiesen werden.
Groß, größer, Stuttgart 21
Mit Stuttgart 21 wird die gesamte Bahninfrastruktur im Ballungsraum Stuttgart neugeordnet. Kernstück ist der Umbau des bisherigen Kopf-Hauptbahnhofes in einen Durchgangsbahnhof. Hierfür wird die Ausrichtung der Bahnsteige um 90 Grad gedreht und diese gleichzeitig in den Untergrund verlegt. Zahlreiche Tunnelbauwerke führen die Gleisanlagen zukünftig ringförmig um Stuttgart herum. Im Zuge dieses einmaligen Infrastrukturprojektes wird der neue Abstellbahnhof in Untertürkheim inklusive dazugehöriger Wartungseinrichtungen und Innenreinigungsanlage den bisherigen im Rosenheimviertel ersetzen. Der Vorteil dabei: Er kann aus zwei Fahrtrichtungen angedient werden.
Das Gelände in Untertürkheim liegt inselgleich zwischen der seit März 2023 in Betrieb befindlichen Interregio-Kurve auf der einen und Nahverkehrsgleisen sowie Wohnbebauung auf der anderen Seite, beschreibt Planungskoordinator B. Sc. Maik Komorek, Eiffage Infra-Nordwest, die vorliegende Bausituation: „Das Gelände ist ellipsenförmig mit einer Länge von knapp zwei Kilometern in Nord-Süd-Ausrichtung und misst an der breitesten Stelle circa 100 Meter. Unsere Aufgabe ist es insgesamt 41 Gleise in mehreren Abstellgruppen mit einer Gesamtlänge von rund dreizehn Kilometern vorzustrecken, die Tiefen- und Gleisentwässerung sowie den Kabel-Tiefbau für den Betrieb des digitalen Stellwerkes und anderer digitaler Anlagen auf dem gesamten Gelände zu errichten.“ Im Vorfeld der Bauaktivitäten wurde auf dem Gelände auch die bereits vorhandene Entwässerungsinfrastruktur mit unter die Lupe genommen und die einzelnen Zustände klassifiziert. Dabei stellte sich heraus, dass drei große Mischwassersammler (in Stuttgart als Dolen bezeichnet) das Gelände in Ost-West-Richtung queren. TV-Inspektionen zeigten Schäden, die in Kombination mit der vertieften Untersuchung des Bestandskanals zu einer Einstufung in den Altrohrzustand IIIa führten, und eine Sanierung inklusive einer statischen Ertüchtigung erforderlich machten.
Auf der Suche nach dem Best-Fit-Querschnitt
Genaue Konstruktionsunterlagen für die in Stampfbeton hergestellten Dolen mit Haubenprofil 1000/1250 lagen aufgrund ihres Alters nicht vor. Aus Zeit- und Kostengründen, aber auch unter Berücksichtigung umweltspezifischer Aspekte, entschied man sich final für die grabenlose Sanierung im Bereich der permanent in Betrieb befindlichen Gleisanlagen, wofür STEIN Ingenieure die Planung übernahm. Schnell war klar, dass ein Einzelrohr-Lining mit eigenständig tragfähigen GFK-Rohren die sinnvollste und beste Lösung darstellte, um die kompletten statischen Lasten aus den äußeren Beanspruchungen aufnehmen zu können. „Aus den hydraulischen Netzberechnungen war erkennbar, dass die Kanäle sehr stark hydraulisch beansprucht sind. Demzufolge war es eine sehr diffizile Aufgabe, das GFK-Profil so groß und so exakt wie möglich an die Bestandskanäle anzupassen und dabei die Querschnittsflächenreduzierung tunlichst gering zu halten. Daher wurde im Vorfeld die Innengeometrie der Dolen mit einem Laser dreidimensional vermessen und darauf aufbauend der Best-Fit-Querschnitt ermittelt“, erklärt Dipl.-Ing. Andreas Beuntner, Geschäftsführer STEIN Ingenieure. Dabei zeigte sich, dass für alle drei Dolen ein und dieselbe Querschnittsgeometrie passte. Beuntner: „Mit dem parabelförmigen Sonderprofil 800/1010 aus GFK bei einer Wandstärke von 28 Millimetern konnte auch der hydraulische Nachweis erfolgreich erbracht werden.“
FEM-Berechnungen überzeugten
Bevor die Rohrproduktion bei Amiblu jedoch starten konnte, galt es, sich mit der Deutschen Bahn abzustimmen, damit die GFK-Rohre mit dem gewählten Sonderprofil den besonderen Anforderungen an die Statik für die Verwendung unterhalb von Gleisanlagen entsprechen und für die Sanierung eingesetzt werden dürfen, wie Dr. René Thiele von Amiblu erörtert: „Amiblu hat bereits seit fast zehn Jahren die Bahnzulassung für kreisrunde GFK-Rohre. Damit sind wir bis heute der einzige Hersteller von GFK-Rohren, der diese Zulassung erhalten hat. Für das Projekt in Stuttgart konnten wir anhand von umfangreichen Untersuchungs- und Prüfberichten aufzeigen, dass auch die Amiblu NC Line Rohre in dem Sonderquerschnitt den Anforderungen hinsichtlich Dauerschwingfestigkeit und Langlebigkeit genügen.“ „Die Amiblu NC Line Profile verfügen aufgrund ihrer Sandwichbauweise über eine hohe Biegestabilität. Der Kern hält den Scherkräften stand, während die Innen- und Außenschichten den Biegekräften im Kern widerstehen“, ergänzt Amiblu Gebietsverkaufsleiter Martin Lang. Untermauert wurde dies auch durch aufwendige Berechnungen nach der Finite-Element-Methode (FEM) die im Auftrag von STEIN Ingenieure gemeinsam mit der Dr. Doll Ingenieurgesellschaft durchgeführt wurden und so die Statik der Rohre nachweisen konnten. Beuntner: „Wir haben die statischen Berechnungen mit dem Prüfstatiker der Deutschen Bahn abgestimmt und genehmigen lassen. Das war ein sehr intensiver und konstruktiver Austausch zwischen Amiblu, der Bahn, Eiffage und uns.“
„Wir verstehen uns bei Amiblu nicht nur als reiner Produzent und Lieferant. Gerade bei solchen komplexen und anspruchsvollen Projekten sind wir auch Projektpartner, der mit ingenieurtechnischem Know-how, Planern, Auftraggebern und Bauausführenden zur Seite steht“, wie Thiele ausführt.
Nachdem die Freigabe des Querschnitts von der Bahn erfolgt war, fertigten die Aarsleff-Mitarbeiter eine Holzschablone des parabelförmigen Sonderquerschnittes für die finale Kalibrierung an. Der zuständige Aarsleff-Bauleiter führt dazu aus: „Mit dieser Schablone sind wir durch alle drei Dolen gelaufen und haben so die Hindernisfreiheit des gewählten Querschnitts festgestellt.“ Diese war gegeben, sodass die Rohre in den Längen 3,00 Meter und 2,35 Meter im Wickelverfahren produziert werden konnten. Die kürzere Baulänge liegt begründet in den beengten Platzverhältnissen für die Einbaugube bei der Dole mit der Nummer fünf, die unmittelbarer im Bereich der in Betrieb befindlichen Gleisanlage liegt.
Neue Stabilität
Ebenso vielschichtig wie die Genehmigung der GFK-Rohre im Sonderquerschnitt, gestaltete sich auch der Einbau der Rohre. Zuerst wurde das alte Haubenprofil im Bereich der Startbaugrube aufgeschnitten und die Betonhaube zwischengelagert, da diese nach Abschluss der Arbeiten wieder aufgesetzt werden sollte. Für den Einbau der Amiblu NC Line Segmente verwendeten die Sanierungsfachleute von Aarsleff ihren eigens für dieses Profil entwickelten Transport-Rohrwagen. Da alle Rohre bereits produziert, kurzfristig auf der Baustelle verfügbar waren, erfreulicherweise das Wetter mitspielte und eine aus unzähligen Projekten erfahrene Crew den Einbau durchführte, konnte Aarsleff zehn bis zwölf Rohre pro Tag installieren. Denn bei einem Verfahren, bei dem das eigentliche Endprodukt erst auf der Baustelle entsteht, müssen Qualität des Ausgangsprodukts und Qualifizierung des Dienstleisters eine untrennbare Einheit bilden, um die hohen Anforderungen der Netzbetreiber erfüllen zu können. „Die Amiblu NC Line Profile sind, wenn man es so sagen will, mittlerweile die dritte Generation nicht-kreisrunder Rohrsysteme, die auf den bewährten Technologien von Amiantit Amiren und Hobas NC Line basiert, jedoch mit neuen Eigenschaften und verbesserter Leistung. So zeichnen sich die Profile auch durch eine höhere Säurebeständigkeit und Stoßfestigkeit aus. Letzteres macht die Rohre noch weniger anfällig für Beschädigungen während des Transports oder der Verlegung und ermöglicht eine besonders einfache und sichere Handhabung“, so Lang.
Für die Aufrechterhaltung der Abwasservorflut während des Rohreinbaus sorgten verschiedene Abmauerungen und eine Umleitung des Trockenwetterabflusses in eine der anderen beiden Dolen. Im Regenfall schickten installierte Messpegel eine entsprechende Warnmeldung per SMS, sodass die Aarlseff-Mitarbeiter die Dolen rechtzeitig verlassen konnten. Insgesamt verlief die Sanierung der ersten beiden Dolen im April und Mai 2023 professionell und problemlos, wie der verantwortliche Bauleiter von Aarsleff betont.
Einbau auf Abruf
An die sanierten Abschnitte schloss Eiffage Infra-Nordwest dann den Neubau der Dolen im freien Baufeld in offener Bauweise an, welche ebenfalls von STEIN Ingenieure mit speziellen Rechteckprofilen aus Stahlbeton für diesen Einsatz geplant worden waren. „Aktuell ist nur noch die Sanierung der Dole fünf offen“, wie Komorek ergänzt. Derzeit sind die Rohre zwischengelagert und warten auf ihren Einsatz. Die Lagerung vor Ort – auch über einen längeren Zeitraum – stellt für die NC Line Rohre kein Problem dar, wie Lang ausführt: „Die Profile sind UV-beständig und daher gibt es keine Veränderung hinsichtlich der Festigkeit und Langlebigkeit durch die Sonneneinstrahlung.“ Bis der Einbau der Rohre in die Dole fünf erfolgen kann, laufen die Arbeiten an den anderen Gewerken weiter, damit der Abstellbahnhof zusammen mit dem neuen Hauptbahnhof 2025 in Betrieb gehen kann.